Tortoise sind eine seit 1990 aktive US-amerikanische Post-Rock-Band aus Chicago. Die Band um John McEntire, Dan Bitney, Doug McCombs, John Herndon und später Jeff Parker entwickelten einen Stil, der sich konsequent zwischen allen Genres stellt: Minimalismus, Jazz, Electronica, Dub, Krautrock und experimentelle Rockstrukturen verschmelzen bei ihnen zu einem unverwechselbaren Sound. Mit ihren atmosphärischen Kompositionen gelten Tortoise als wichtige Wegbereiter der sogenannten Post-Rock-Bewegung. Vor der Gründung von Tortoise zu Beginn der 90er waren alle Mitglieder bereits in anderen Rock- und Punkbands aktiv gewesen. Bis heute sind die Musiker Teil eines großen Chicagoer Netzwerks, spielen neben ihrer Mitgliedschaft bei Tortoise in Formationen wie The Sea And Cake, Isotope 217, Brokeback und Chicago Underground oder sind als Producer tätig. Tortoise arbeiten weniger wie eine klassische Rockband und mehr wie ein Ensemble, ihr musikalischer Ansatz ist kollektiv geprägt. Besonders ihre Alben „Millions Now Living Will Never Die“ (1996) und „TNT“ (1998) machten sie zu Pionieren einer Szene, die bis heute von ihrem Soundverständnis beeinflusst ist. Tortoise stehen für Präzision, Offenheit und Experimentierfreude – für Musik, die sich Zeit nimmt und dabei immer wieder neue Räume erschließt.
„Ich glaube, Duke Ellington hat mal gesagt, dass jeder Musiker letztlich nur eine einzige Melodie in sich trägt. Jede seiner Kompositionen wäre dann eine Neuinterpretation dieser einen Melodie. Wenn das so ist, dann arbeiten Tortoise bei fünf Mitgliedern also mit fünf Melodien! Ich denke manchmal darüber nach. Keine Ahnung, inwieweit das stimmt. Aber ich weiß, dass in meinen Sachen gewisse Dinge immer wieder auftauchen, so auch bei Jeff und John. Und das ist sicherlich ein Grund dafür, dass, egal, was und wie wir es tun, am Ende immer dieses zusammenhängende Werkstück herauskommt, das wie Tortoise klingt”
Zitat von Doug McCombs
Mit „Touch“ legen Tortoise den Nachfolger ihres 2016 erschienenen „The Catastrophist“ vor – und erneut ein Werk, das sich einer schnellen Rezeption entzieht. Die Chicagoer Post-Rock-Pioniere, längst Meister der instrumentalen Zwischentöne, knüpfen an ihre eigene Zeitlosigkeit an. „Touch“ ist kein radikaler Neuanfang, sondern eine geduldige Weiterentwicklung.
Strukturen, die wachsen statt starten
Tortoise bleiben Architekten des Nonlinearen. Die Stücke entfalten sich organisch, statt klassisch einzusetzen: Gitarren treten vorsichtig ins Licht, Synths legen sich um verschobene Rhythmen, und die charakteristischen Drumpatterns werden durch analoge Wärme geerdet. Der Auftakt „Vexations“ spielt mit nervöser Energie: klackernde Percussion, verschobene Samples, ein treibender, aber zurückhaltender Bass. Kleine Unstimmigkeiten werden hier zu bewusst gesetzten dramaturgischen Details. Auf der Single „Layered Presence“ trifft verspielte Elektronik auf organische Drums – ein kompaktes Destillat des Albumcharakters. „Works and Days“ überrascht mit zerhackten Samples und fein verschobener Perkussion. Mit „Elka“taucht das Album in eine dichte Atmosphäre ein: ein tuckender Grundpuls, darüber fragile Vintage-Keyboards – möglicherweise ein Verweis auf den italienischen Orgelbauer Elka. „Promenade à deux“ zeigt die Band von ihrer entspannten, offen warmen Seite: minimal, aber emotional schimmernd – Wohlfühlmusik für Avantgardisten. Deutlich krautiger wird es mit „Axial Seamount“, dessen überlagerte Rhythmusfragmente und elektronische Einwürfe die geologische Landschaft des titelgebenden Unterwasser-Vulkans skizzieren. „A Title Comes“ reduziert alles auf den Kern: wenige Motive, große Wirkung. „Rated OG“ wiederum komprimiert Groove und Soundflächen zu einem kurzen, pointierten Moment. Gegen Ende verdichtet sich der Charakter des Albums: „Oganesson“ setzt rhythmische Akzente, bleibt aber angenehm relaxed. „Night Gang“ schließlich, mit seinen minimalistischen Melodien und dem schlingenden Beat, verneigt sich hörbar vor Ennio Morricone.
Kollektives Understatement als Stilmittel
Bemerkenswert ist die Selbstverständlichkeit, mit der Tortoise auf Virtuosität verzichten – obwohl sie genau dazu fähig wären. Die Band agiert als ein perfekt eingespieltes Ensemble, das Räume öffnet: für Pausen, für melodische Miniaturen, für feine Schattierungen. „Touch“ drängt sich nicht auf – es lädt ein. Wer sich Zeit nimmt, entdeckt ein fein verwobenes Netz aus Klangfarben, das den Post-Rock nicht neu definiert, aber seine leisen Stärken ins Zentrum rückt. Für Fans ein würdiges, zurückgelehntes Kapitel; für Neueinsteiger ein zugängliches Tor in die Welt von Tortoise.


