Alles ist nur Übergang
Max Rieger ist ein deutscher Singer/Songwriter, Musiker und Produzent aus Esslingen bei Stuttgart. Man kennt ihn vor allem als Gründungsmitglied und Sänger von Die Nerven. Aber neben seiner Band hat dieser Workaholic noch zahlreiche weitere Projekte am Start. Gemeinsam mit Ralv Milberg und Thomas Zehnle (Levin Goes Lightly) bildet er die „Underground-Supergroup“ Jauche, die sich der Electronica, dem Kraut und der Minimal Music verschrieben hat, und quasi als musikalischer Gegenpart überrascht sein Soloprojekt Obstler mit hartem und lautem Black Metal und Noise – sein zweites Album unter diesem Pseudonym erschien bereits 2019 mit dem Titel „Demonji“ – und dann gibt es noch die Formation Die Selektion, die Rieger mitgegründet hat und deren aktuelles Album „Zeuge aus Licht“ im September 2023 veröffentlicht wurde. Darüber hinaus arbeitete er als Produzent mit Drangsal, Friends Of Gas, Jungstöter, Mia Morgan, Caspar oder Ilgen Nur zusammen. Als großer Swans-Fan leistete er sich dann auch mal einen unbezahlten HiWi-Job bei der Produktion ihres sechzehntes Studioalbums „The Beggar.“ Bei alledem fand er auch noch Zeit, um den Soundtrack für Burhan Qurbanis 2020 erschienenen Film „Berlin Alexanderplatz“ zu komponieren. Ja, und dann gibt es noch sein erfolgreiches Soloprojekt All diese Gewalt – vom Namen her klingt es nach ähnlich brachialem Lärm wie bei seiner umtriebigen Noise-Punk-Band, tatsächlich bewegt sich Rieger hier allerdings in deutlich ruhigeren und poetischeren Gefilden. Nach eigenem Bekunden ist All diese Gewalt ein „sehr emotionales oder sagen wir mal persönliches Ding“ und wenn man die Songs so hört, nimmt man ihm das auch ab…
„Alles ist nur Übergang“, das bereits vierte Album von All Diese Gewalt, ist im Gegensatz zum Vorgängeralbum, dessen Entwicklung nahezu vier Jahre dauerte, mit ca. zwei Monaten relativ schnell entstanden. Laut Rieger ist das Cover ein Kinderfoto von ihm, das sein Opa von ihm machte, als er vor einem Fenster stand. Daher kommt wohl auch das diffuse Gegenlicht – und möglicherweise auch der Titel des ersten Tracks, der ganz selbstbewußt „ICH BIN DAS LICHT“ – in Versalien! – betitelt ist, was dann doch sehr an die Ich-bin-Aussagen im Neuen Testament erinnert. Dort heißt es in Johannes 8,12: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ Und Max Rieger singt: „Ich bin das Licht / Das durch alles spricht / Durch Wolken bricht“.
Die Seele wiegt 21 Gramm
Tatsächlich ist denn auch das ganze Album recht spirituell geraten. So hat Rieger zur Inspiration, wie er selbst bekundete, auch schon mal ein christliches Gesangsbuch zur Hand genommen, um Worte und Bilder zu finden, die für ihn funktionieren könnten. Gut zu hören auf dem Track „21 Gramm“, in dem er sich im Schleichtempo auf die metaphysische Ebene des menschlichen Lebens begibt und über das Gewicht der Seele reflektiert. Zu verhuschten elektronischen Sounds und leichten, verschwommenen Chor-Fragmenten — eher reiner Sound denn Musik — sinniert er über die Zerbrechlichkeit seines Seins: „Renne seit ich denken kann gegen jede Wand / setze alles in Brand / Balanciere an der Klippe, könnte alles jeden Augenblick kippen“. Dabei basiert die Idee des Songs auf einem Versuch des US-amerikanischen Artzes MacDougall, der 1902 beweisen wollte, dass die Seele materiell und messbar sei. Sein Ergebnis bei sechs sterbenden Patienten: Die Gewichtsdifferenz zwischen lebendigen und toten Patienten betrug durchschnittlich 21 Gramm, bei fünfzehn sterbenden Hunden stellte er hingegen keine Gewichtsabnahme fest, woraus er folgerte, dass Hunde keine Seele besäßen (selbst der deutsche Rapper Kollegah weiß: „Es heißt, wir alle verlieren 21 Gramm genau in dem Moment, in dem wir sterben“, wobei er das Thema erwartbar stumpf angeht „Egal, wer vor mir steht, ich senke sein Bodyweight um 21 Gramm“ – not my style).
Bedeutungsschwangere Texte
Und es liegt es ja auch nahe, dass es bei einem Album mit dem Titel „Alles ist nur Übergang“ vorwiegend um Transzendenz, Vergänglichkeit und Tod geht. Gegenüber dem Rolling Stone Magazine erläuterte Rieger, dass sich auch das Schwarze Album der Nerven mit diesen Themen beschäftigt, wobei die Band eher das gesellschaftliche Phänomen verhandelt, während sich sein Solowerk auf rein persönlicher Ebene bewegt. In „Zu Staub werden“ begibt er sich In „100 Kilometer über der Erde” und stellt klar „Ich habe die Zeit nur ausgeborgt“ und auch in „Beleuchtete Höhle” betont er erneut mit druckvoll emotionalem Gesang: „Ich bin nur Gast auf Erden / Ich bin nur Gast in diesem Haus / Schon bald ziehe ich aus“. Gelegentlich klingt es dann doch ein wenig banal und gewollt pathetisch (Aber das kann dann schon mal passieren, wenn man Inspiration bei christlichen Gesangsbüchern sucht – LOL). Mit „100.000 Tonnen“ gibt es aber auch einen düsteren, bedrückenden Track, der so ganz ohne Worte auskommt und sich in schön noisige Spähren emporschwingt, um sich dann fast ohne Übergang mit dem schwebenden, seichten Track „so leicht“ – versüsst mit gehauchten Frauenchorälen – zu verweben.
Zwischen Kitsch und Kunst
Beim darauffolgenden brachialen „Ab ab ab” mit seinen sägenden Gitarren sind dann die Parallelen zu seiner Band Die Nerven nicht mehr zu überhören. So bewegt sich das Album geschickt zwischen Elementen aus klassischer Musik, E‑Gitarren-Sounds, Synthesizern und noisigen Klangteppichen. Im abschließenden Titel-Track „Alles ist nur Übergang“ singt Rieger: „Ich nähere mich an / Wär‘ so gerne näher dran / Aber ich komm nicht näher ran“. Damit endet das Album wieder sehr harmoniebedürftig und beweist noch einmal, wie schmal die Grenzen zwischen Kitsch und Kunst, zwischen Pop und Experiment bei diesem Album sind. Aber vielleicht ist es genau das, was „Alles ist nur Übergang“ so groß macht – auch wenn es gelegentlich ein wenig prätentiös daherkommt.