Das Post-Punk-Duo Big Special, bestehend aus Sänger Joe Hicklin und Drummer Callum Moloney, kommt aus Birmingham, stammt also aus dem sogenannten Black Country – einem industriellen Ballungsgebiet in den West Midlands. Die Bezeichnung „Schwarzes Land“ wird vielfach auf die starke Luftverschmutzung durch die Industrie ab etwa 1750 zurückgeführt. Und ähnlich wie die Sleaford Mods aus Nottingham verleugnen die beiden ihre Wurzeln nicht, sondern machen sie im Gegenteil zum Thema, geben sich klassenbewusst, pflegen aufrechtes Proletentum und zeigen politisches Sendungsbewusstsein. Kennengelernt haben sie sich mit 17 Jahren auf einem College, gingen zunächst verschiedenen eigenen Musikprojekten nach und entschlossen sich später zur musikalischen Zusammenarbeit. Schon sehr schnell in ihrer kurzen gemeinsamen Karriere durften sie einige Shows für Sleaford Mods (!) eröffnen.
I hope you’re never tired, I hope you’re never lonely
Textausschnitt aus „God save the Pony.“
Lediglich Durchschnitt, nicht mehr: „National Average“ – so der Titel des zweiten Albums von Big Special. Und auch das Albumcover mit dem schlichten Gericht aus Spiegelei und Pommes verspricht nicht viel: einfache Hausmannskost halt. Doch weit gefehlt: Big Special erheben das Alltägliche zum Statement und servieren ein wütendes, tiefgründiges Werk – ohne große Vorankündigung und Vorab-Takes. Und spätestens mit dem Opener „The Mess.“ ist klar: Das hier ist kein gewöhnlicher Nachfolger eines ohnehin schon großartigen Debüts, sondern eine laute, poetische Kampfansage gegen Stillstand, Anpassung und die eigene Leere.
Zwischen Groove und Groll
Klanglich ist „National Average“ ein Entwicklungssprung: Big Special behalten ihre raue Post-Punk-Wurzel, flechten aber vermehrt funkige Rhythmen und düstere Elektronik in ihr Soundbild ein. Songs wie „God Save The Pony.“ klingen rotzig und tanzbar zugleich –pubtaugliche Parole trifft auf zarte Empathie. Sänger Joe Hicklin nennt das Stück eine Ode an die unsichtbaren Lasten, die wir alle mit uns schleppen. Ein Song, der dich zum Nachdenken bringt und deinen Körper zucken lässt.
Wut mit Tiefgang
„Shop Music.“ rechnet gnadenlos mit der Kommerzialisierung von Kunst ab: „Exposure doesn’t pay and you can’t eat art“ brüllt Hicklin – ein Satz, so einfach wie wahr. Auch „Hug a Bastard.“ lebt vom Spannungsverhältnis zwischen Ironie und Ernst, zwischen kollektiver Energie und individueller Erschöpfung. Big Special erzählen von Erfolgen, die sich leer anfühlen, und davon, wie sich politische Ohnmacht und persönliche Zweifel ineinander verkeilen.
Zwischen Tränen und Tanzfläche
Trotz aller Düsternis kennt das Album auch Ruhepunkte. „Thin Horses.“, mit Rachel Goswell, Sänger und Gitarrist der britischen Shoegaze-Ikonen Slowdive, ist ein zarter Abschluss: ein Lied über Hoffnung, Mitgefühl und das Bedürfnis nach Nähe. Big Special können nicht nur zu brüllen, sie wollen auch berühren.
Echte Working-Class-Kunst
„National Average“ ist ein rauer, kluger, musikalisch gereifter Brocken Working-Class-Kunst. Es ist Punk mit Poesie, Trost mit Takt, Wut mit Witz. Big Special liefern kein Heldenepos, sondern ein vertontes Tagebuch vom Innenleben zweier Männer in einer Welt im Umbruch. Und sie tun es mit Haltung, Humor – und verdammt guten Hooks. Wie ihr Debüt: einfach mitreissend. Auch live sind die beiden eine Wucht.
They fell to safety, so I’ve heard Under their thick black blanket of industry Now they kneel and pray at the steel altar The hopeless congregation of a Godless mass
Textausschnitt aus „Black country gothic”
„Postindustrial Hometown Blues“ ist das Debütalbum des Duos, und, wie der Titel durchscheinen lässt, thematisiert es das Leben der Arbeiterklasse, den kläglichen Zustand der britischen Nation und die Verarmung einer ehemals blühenden Industrielandschaft. „Obviously I fucking hate the Tories, I fucking hate Keir Starmer, it’s all against the people,” betonte SängerJoe Hicklin angepisst gegenüber dem englischen NME, und weiter: „The working class might as well be completely fucking invisible. It’s all wank. I just wish it would all burn down so we could start again.” Dabei klingen die Post-Punker aber nicht nur wütend und aggressiv, sondern schlagen auch versöhnliche Töne an. Musikalisch setzen sich Big Special mit ihrem Debüt zwischen alle Stühle. Natürlich kommen einem wie bei dem dem treibenden, impulsiven Opener „Black country gothic“ die Mods mit Williamsons bitterbösen Tiraden in den Sinn, im klagenden „This here ain’t Water“ mit seinem leicht souligen Touch hingegen lauern die Algiers, und einen Hauch Arctic Monkeys findet man in „Shithouse”, aber auch der trockene Rock eines Bruce Springsteen („iLL“) kann schon mal auftauchen. Mit dem schwarzhumorigen „I mock joggers” leistet man sich einen schrägen Bluesrock mit Spoken Words und kruden Synthieflächen, in „Trees“ plunkern elektronische Sounds fröhlich vor sich hin, und das zerbrechliche „For the birds“ wird weitestgehend von einem seichten Piano getragen. Eine wütende, nackte Predigt, die ganz ohne instrumentale Untermalung auskommt, findet man in„Mongrel“. So formt das Duo mit seinem experimentellen Ansatz einen einzigartigen Sound aus einer Mischung von Rock, Punk und Electronica.
Jederzeit auf großer Europa-Tour
Mit Big Special haben die Midlands ein weiteres schlagkräftiges und meinungsstarkes Post-Punk-Duo – mit einem charismatischen Shouter, der einen harten, regionalen Slang pflegt. Und wie die Mods treten sie bei ihren Shows auch nur als Duo auf. Die Drums und die Vocals sind live, alle anderen Instrumente und Sounds kommen vom Band. Derzeit sind Big Special auf Tour: So spielen sie in Deutschland auf dem Deichbrand Festival in Cuxhaven sowie dem Haldern Pop Festival. Und worauf ich mich besonders freue: Am 6. November 2024 treten sie in der Kulturkirche als Support des großartigen Singersongwriters John Grant auf, bekanntgeworden als Frontman der „Czars“. Einen Tag später gibt es noch einen weiteren gemeinsamen Auftritt im Columbia Theater in Berlin.