Der ehemalige Tennis-Profi Patrick Wagner ist ein Veteran der deutschen Undergroundmusikszene. Bereits 1994 gründet er mit Surrogat eine der wohl umstrittensten deutschen Bands. „Hell In Hell“, der vielleicht bekannteste Output der Band, bleibt das letzte Album der Berliner. 2003 löst man sich auf. Der zum ironischen Größenwahn neigende Wagner („Patrick Wagner Superstar“, „Größer als Gott“) gründet mit seiner Frau Yvonne Franken das Label Louisville, benannt nach ihrem Sohn Louis. Er verpflichtet dafür heute weltweit bekannte Acts wie Peaches oder Chilly Gonzales, das Jeans Team und die österreichischen Naked Lunch. Lange geht das allerdings nicht gut: Aufgrund von Zahlungsunfähigkeit muss das Label 2010 dicht machen. Was folgt, ist die Scheidung von seiner (Geschäfts-)Partnerin, eine längere Depression und ein neuer Beruf: Fußballjugendtrainer. Als 50jähriger will er noch einmal als Musiker durchstarten. Mit seiner neuer Partnerin Helen Henfling gründet er 2015 in Berlin das Noise-Rock-Trio Gewalt. Nach einigen Wechseln übernimmt die Wiener Tontechnikerin Jasmin Rilke den Bass, wobei das Noise-Rock-Trio eigentlich ein Quartett ist, denn in allen Credits wird die Druckmaschine Linn Drum als offizielles Bandmitglied gelistet. Ende September 2024 steigt Bassistin Jasmin Rilke nach vier Jahren aus persönlichen und gesundheitlichen Gründen überraschend aus. „Doppeldenk“ ist ihr letztes Album.
Das ist kein Fahrradweg.
Textausschnitt aus „Ne Ne, Alles gut“
Rechts gehen und hinten anstellen.
Das ist kein Spielplatz.
Rechts gehen und hinten anstellen.
Nach dem Debüt „Paradies” (2021) heben Gewalt ihren Synthie-Industriesound mit dem neuen Album „Doppeldenk“ in neue Höhen und schaffen mit Industrial, Postpunk, New Wave, Noiserock und Elektro ein düsteres, brutales Klangerlebnis, werden dabei jedoch etwas zugänglicher. Aber es bleibt primitiv, laut und stumpf, wenig komplex, brachial, mitreißend und eigenständig, dabei absolut zeitgemäß und stimmig. Doppeldenk – ein Neusprech-Begriff, der auf den dystopischen Roman 1984 von George Orwell zurückgeht – beschreibt widersprüchliches Denken, dass es möglich macht, zwei sich gegenseitig ausschließende Überzeugungen aufrechtzuerhalten und beide zu akzeptieren. Er beschreibt eine Form kognitiver Kontrolle und die Fähigkeit, ohne innere Konflikte mit gegensätzlichen Gedanken oder Fakten umzugehen. Oder auch anders gesagt: Doppeldenk beschreibt den Mechanismus, absichtlich Lügen in die Welt zu setzen, um dann aus vollem Herzen daran zu glauben.
„Schwarz Schwarz“
Tatsächlich führt „Doppeldenk“ sowohl inhaltlich als auch musikalisch ins Jahr 1984 zurück. Nicht nur Orwell sei hier genannt, auch die in den 80ern aktive Agitprop-Band Ton Steine Scherben hinterlässt ihre Spuren: „Egal wohin der Wind dich weht, halt dich an deiner Lüge fest“, verballhornen Gewalt die Zeile „Halt dich an deiner Liebe fest“ aus dem bekannten Scherben-Song – dazu hämmert die Linn-Drum einen stumpfen, treu deutschen Marschrhythmus – eine Rhythmusmaschine, die zufälligerweise aus der besagten Zeit stammt: Im Original wurde sie zwischen 1982 und 1985 hergestellt. Und genau aus dieser Zeit stammen auch die musikalischen Vorväter von Gewalt. Die Geister von DAF und der EBM-Formation Nitzer Ebb streifen durch das gesamte Album. Passend zum wummernden, düsteren Sound stehen auch lyrisch die Zeichen auf Aussichtslosigkeit und wir am Abgrund. Patrick Wagner presst dies in kurzen Sätzen, oft auch nur als einzelne Worte, gequält aus sich heraus, immer wieder mantrahaft wiederholend, so monoton wie der Rhythmus. Gleich im Opener jammert er wütend: „Gib mir einen neuen Körper. Meiner zerfällt. Oder ein Tutorial für einen neuen Verstand? Ich bin höchstens tot, doch mindestens krank. Ich sammle Punkte. Das hat man mir an der Kasse so gesagt. Ich seh die Welt schwarz schwarz.“ Auf dem ganzen Album schimmert kein Funken Hoffnung, es gibt kein Grau, kein Weiß, nur „Schwarz Schwarz“. Die Perversionen dieser Welt werden genauso benannt („Monolog einer Drone“) wie schiefe Machtverhältnisse und Unterdrückung („Jemand“). Man kann dem Verfall kaum entgehen, denn wir sind alle im gleichen Haus wie es in „Das kann ich nicht“ heißt: Sexisten, Faschisten, Ängste, Vorurteile, Nazis, Patienten, Trennungen, Kunden, Rassisten, User, Callcenter, Soldaten, Rechnungen, Influencer, Zwangsvollstrecker. Alle sind im Haus. Einen Ausweg gibt es nicht: „Ich verlier mich hier, ich sterbe hier. Fuck ich muss hier raus. Aber dann fällt mir auf, das kann ich nicht. Fuck.“ Einzig der Song „Ein Sonnensturm tobt über uns“ klingt überraschend gut gelaunt, auch wenn sich auf der Textebene nicht viel ändert: „Leute gibt es überall / Kriege gibt es überall / Ein Sonnensturm tobt über uns.“ Immerhin findet ein Saxophon (Matthias Moeferdt) seinen Platz in diesem Track, wie übrigens auch In dem nervös hämmernden „Felicita“. Ein Titel, der einem möglicherweise bekannt vorkommt: Anfang 1982 (!) besang das italienische Popduo Al Bano & Romina Power unter diesem Titel das Glück der Liebe. Bei Wagner heißt es dagegen: „S‑Bahn. Frau ohne Alter steigt ein. Braune Flecken im Gesicht. Keine Zähne — Crystal tötet. Nur heute nicht.“ Hoffnung? Einmal mehr Fehlanzeige.
„Ne Ne, alles gut“
Und wie um den Gedanken des „Doppeldenk“ am Ende noch einmal aufzugreifen, heißt es in dem abschließenden, schon fast poppigen „Ne Ne, alles gut“: „Ich bin ja kein Nazi, aber sollen wir alle aufnehmen. Rechts gehen und hinten anstellen”, um am Ende zu konstatieren „Nichts ist OK. Ja!“. Wer es bis hier noch nicht begriffen hat, dem ist eh nicht mehr zu helfen. Mit zarten Harfenklängen geht das Album zu Ende. Ein großartiges, intensives Album — bei aller Verzweiflung trägt es eine tiefe Katharsis in sich. Man fühlt sich erschlagen – man könnte es Entspannung nennen, nur andersherum. Irgendjemand bemerkte einmal über den Sound der Band: „Ich bin ja kein Borderliner, aber ab und zu tut so was echt gut.“