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Kae Tempest

Durch­schnitt­li­che Lese­dauer 4 Minu­ten

Kae Tem­pest, gebo­ren im Süd­os­ten Lon­dons als jüngs­tes von fünf Kin­dern, ist eine der prä­gends­ten poe­ti­schen Stim­men Groß­bri­tan­ni­ens – zwi­schen Spo­ken Word, Rap, Thea­ter und Roman. Schon früh zog es Tem­pest auf die Bühne: Mit 16 Jah­ren stand er erst­mals bei einem Rap-Auf­tritt in Lon­don am Mikro­fon. Ab 2006 machte sich Tem­pest mit auf­wüh­len­den Poetry-Slam-Per­for­man­ces einen Namen, tourte mit der eige­nen Band Sound of Rum durch Europa, Aus­tra­lien und die USA. Neben­bei ent­stan­den erste lite­ra­ri­sche Werke: die Gedicht­samm­lung Ever­y­thing Speaks in its Own Way“ (2012), das Thea­ter­stück Was­ted“ (2013) und die mit dem Ted-Hug­hes-Award aus­ge­zeich­nete Spo­ken-Word-Per­for­mance Brand New Anci­ents“. Mit dem von Dan Carey pro­du­zierte Debüt­al­bum Ever­y­body Down“ (2014) rückte Tem­pest end­gül­tig ins Ram­pen­licht. Es folg­ten der gefei­erte Roman The Bricks That Built the Hou­ses“ (2016, dt. Wor­auf Du Dich ver­las­sen kannst“), meh­rere Alben, Gedicht­bände und Thea­ter­stü­cke.
Auch jen­seits der Kunst mar­kiert Tem­pests Weg ein State­ment: 2019 outete sich Tem­pest als queer, 2020 als nicht­bi­när und gab bekannt, den Namen Kae zu tra­gen. Seit April 2025 lebt Tem­pest offen als trans Mann und nutzt die Pro­no­men he/​him. Diese per­sön­li­che Trans­for­ma­tion spie­gelt sich auch in sei­nem jüngs­ten Album Self Titled“ (2025) wider – ein radi­kal ehr­li­ches, musi­ka­lisch viel­schich­ti­ges Werk über Iden­ti­tät, Befrei­ung und Zugehörigkeit.Für sein viel­fäl­ti­ges Werk“ wurde Tem­pest 2021 auf der Bien­nale di Vene­zia mit dem Sil­ber­nen Löwen aus­ge­zeich­net. Ob auf Platte, im Buch oder auf der Bühne: Kae Tem­pest erzählt Geschich­ten, die unter die Haut gehen – immer mes­ser­scharf, immer mit dem Herz zuerst.

Kae Tempest, Self Titled

Kae Tempest
Self Titled

Ver­öf­fent­licht: 04. Juli 2025
Label: Island Records

If you saw the younger you, what would you say to em?
I would say thanks, I would say peace
I’d tell them, Soon child, you are gonna find release”

Text­aus­schnitt aus Know Yourself”

Noch nie war der Titel Self Titled“ so tref­fend wie bei dem fünf­ten Stu­dio­al­bum von Kae Tem­pest, der seit 2025 offen als trans Mann lebt. So schlicht der Titel und doch so pas­send: Denn hier geht es nicht um nichts weni­ger als Selbst­be­haup­tung – per­sön­lich, poli­tisch, poe­tisch. Kein musi­ka­li­sches State­ment, son­dern ein poe­ti­sches Selbst­por­trät: roh, redu­ziert und dabei von durch­drin­gen­der Kraft. Schrieb Tem­pest in ihrer frü­her Kar­riere vor­wie­gen über andere, über die Zer­brech­lich­keit urba­ner Bio­gra­fien im Spät­ka­pi­ta­lis­mus, über Wut, Liebe und Armut, wech­selte der Blick mit dem Vor­gän­ger-Album The Line Is A Curve“ (2022) nach innen. Self Titled“ geht die­sen Weg nun wei­ter –ist dabei aber weni­ger Suche als ein Ankom­men: Das bin ich jetzt.

Soundtrack einer Transition

Seit dem Coming-out als trans Per­son im Früh­jahr 2025 hat sich nicht nur Tem­pests Name geän­dert, son­dern auch seine Stimme. Sie ist tie­fer, vol­ler, ruhi­ger – und sie trägt diese Songs mit einer Auto­ri­tät, die fast schon medi­ta­tiv wirkt. In Know Yours­elf“ begeg­net der heu­tige Kae sei­nem frü­he­ren Ich. Ein Track wie ein inne­rer Dia­log, bei dem sich Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart wech­sel­sei­tig aner­ken­nen: ver­letz­lich, stark, hei­lend. Im Musik­vi­deo zum Song wird der Fri­seur­sa­lon zur Meta­pher: Aus Buzzcuts und Under­cuts wird ein quee­rer Mini-Rave, aus einem Fern­se­her spricht der frü­here Kae mit lan­gen Haa­ren. Soon child, you are going to find release“ – eine Line, die hän­gen bleibt wie ein Mantra.

Pop mit Wortgewalt

Musi­ka­lisch ist Self Titled“ ein span­nen­der Hybrid: Mal mini­ma­lis­tisch wie auf alten Slam-Büh­nen, mal pop­pig und groß – etwa in Suns­hine On Cat­ford“, einem syn­th­durch­tränk­ten Duett, dem Neil Ten­n­ant von den Pet Shop Boys unver­kenn­bar sei­nen Stem­pel auf­drückt. Pro­du­ziert wurde das Album von Fraser T. Smith (u.a. Adele, Stormzy), der Tem­pest ermu­tigte, radi­kal aus der Ich-Per­spek­tive zu schrei­ben – und genau das ist pas­siert. Ob in der mit Pathos auf­ge­la­de­nen Eröff­nung I Stand On The Line“ oder im aggres­siv-grim­mi­gen Sta­tue In The Square“: Tem­pest spricht nicht nur über sich, son­dern auch über Struk­tu­ren – Gen­der­nor­men, Klas­sis­mus, Que­er­feind­lich­keit. Doch statt zu pre­di­gen, macht Tem­pest Ange­bote zur Identifikation.

Zorn und Zärtlichkeit

Die zen­tra­len Zei­len des Albums stam­men aus dem Song Brea­the“ – einem atem­lo­sen Spo­ken-Word-Mani­fest, das Tem­pests eigene Ent­wick­lung als Künst­ler und Mensch ver­dich­tet. Ein Track in einer Spra­che, die tief aus dem Inners­ten kommt. Auch Dia­gno­ses“ ist so ein Track – ein Song, der von Tem­pests Geschlechts­dys­pho­rie, Sucht­pro­ble­men und ADHS han­delt. Diese Mischung aus Selbst­iro­nie, Zorn und fei­ner Zärt­lich­keit durch­zieht fast alle Stü­cke, die sich oft wie Briefe an jün­gere Ichs lesen.

Politik im Persönlichen

Tem­pest schafft es, das Pri­vate poli­tisch zu machen, ohne je pla­ka­tiv zu wer­den. In Songs wie Hyper­di­stil­la­tion“ geht es um Obdach­lo­sig­keit vor lee­ren Luxus­woh­nun­gen, um ein kol­la­bie­ren­des Gesund­heits­sys­tem – aber auch um die Kraft, trotz allem wei­ter­zu­ge­hen. Und selbst wenn Bless The Bold Future“ apo­ka­lyp­tisch klingt, blitzt darin eine Uto­pie auf: eine que­ere Zukunft, in der das Ich sein darf. Dass das alles nicht in Welt­erklä­rungs-Kitsch abrutscht, liegt an der Spra­che: Jede Zeile wirkt über­legt, geschlif­fen, zugleich dring­lich und offen und mit einer kla­ren Hal­tung klar: wider­stän­dig, poe­tisch, vol­ler Mitgefühl.

Zwischen Rückblick und Aufbruch

Self Titled“ ist ein Neu­an­fang, ein Start in eine neue Zeit – aber einer, der nur mög­lich war, weil vor­her so viel pas­siert ist. Weil Tem­pest durch Schmerz, Zwei­fel und Tran­si­tion hin­durch­ge­gan­gen ist. Und weil dar­aus nicht nur ein künst­le­ri­scher Befrei­ungs­schlag wurde, son­dern auch ein kol­lek­ti­ves Ange­bot: an Men­schen, die ihre Iden­ti­tät suchen, an sol­che, die sich fra­gen, wo ihr Platz in die­ser Welt ist – und an alle, die noch glau­ben, dass Worte hei­len kön­nen. Und so ist die­ses Album kein lau­ter Tri­umph, son­dern ein lei­ser Sieg – über sich selbst, über die Erwar­tun­gen ande­rer, über gesell­schaft­li­che Enge. Kae Tem­pest hat sich selbst neu beti­telt. Und end­lich klingt es so, als würde das auch wirk­lich stimmen.

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