Vicky Mettler ist eine experimentelle Gitarristin und Produzentin aus Montreal, Quebec. Mit verschiedenen elektronischen Techniken und oft manipulierter Gitarre schafft Mettler eigenwillige und seltsam schräge Kompositionen. Unter ihrem Künstlernamen Kee Avil hat sie sich in der vielschichtigen elektronischen Musikszene ihrer Heimatstadt Montreal mit ihrem Sound aus Noise, Drone und elektronischen Elementen schon vor ihrer ersten Veröffentlichung einen Namen gemacht. Wenig erstaunlich daher, dass Ihr Debüt „Crease“ aus dem Jahr 2022 mit Lobeshymnen unter anderem von Medien wie The Wire, The Quietus, Mojo und Foxy Digitalis überschüttet wurde, zudem erhielt das Album eine Nominierung für den Canadian Juno Award und wurde Bandcamp-Album des Tages und des Jahres. Die beunruhigende Atmosphäre ihrer Songs, die raue Intensität ihrer Stimme sowie die messerscharfen, harschen Interpretationen führen schnell zu Vergleichen mit den frühen PJ Harvey, Fiona Apple oder auch This Heat. Sie ist beheimatet auf dem Montrealer Avantgarde-Noise-Label Konstellation Records und befindet sich damit in der illustren Gesellschaft von God Speed You! Black Emperor, All Hands_Make Light und Joni Void.
Textausschnitt aus „remember me”
I have never seen, how you scream, how you cry,
how I dream with you
I have never seen, how you smile how you laugh
Nach dem doch sehr gelobten Debütalbum ist diese einzigartige Avantgarde-Pop-Künstlerin erstmal verstummt. Erst im Mai 2024 meldet sie sich nach zwei langen Jahren ohne musikalischen Output mit ihrem Zweitwerk „Spine“ zurück. Sie habe sich in einer Zeit der totalen künstlerischen Lähmung befunden, beschreibt Mettler ihr musikalisches Schweigen „For two years after Crease, I didn’t write music, words were just tip toeing in my brain. Spine had to happen fast, so I wouldn’t get frozen in time again“, meint die Künstlerin zu ihrem neuen Kreativitätsschub. So entstand Spine in nur wenigen Monaten — und das Album sollte definitiv anders klingen als das Debüt. Einerseits klingt ihr Sound nun deutlich rauer, knochiger und reduzierter, andererseits besitzt das Album einen ungewöhnlichen, eingängigen Pop-Appeal — sie selbst nennt es Folk: „I wanted to write songs that I could sing on guitar, to combine the energy of folk music with dry, sharp electronics.“ Und obwohl es kein Konzeptalbum sein soll, drehen sich die Themen größtenteils um den Zerfall von Zeit und Erinnerungen, und ganz bewusst ist die Instrumentierung begrenzt: Auf jedem Track werden neben Gitarre und Elektronik maximal zwei weitere Instrumente eingesetzt, wobei Kees schmerzlich gepresste Stimme und ihr Gitarrenspiel in den Vordergrund gerückt werden.
Harmonisch trotz Dekonstruktion
Verfremdungen und allerlei Effekte schaffen eine beunruhigende, düstere Atmosphäre aus unterschwelligem Industrial-Sound mit melodischen Parts und meisterhaft dunklen Grooves. Dabei verzichtet Spine auf jegliche musikalische Ausschmückungen und Ablenkungen und kommt anstrengend intim und intensiv beunruhigend daher. So ist der Opener „Felt“ mit seinen verdrehten Gitarren und spröden Synthesizer-Texturen ein unkonventioneller Lo-Fi-Popsong, der immer knapp am Abgrund vorbeizuführen scheint. In „the iris dry“ sinniert sie in heiseren Worten zu metallischem Knuspern und Knistern über die Unmöglichkeit einer Beziehung. Zittriger, wehmütiger Gesang klagt auf „showed you“ zu einzelnen Gitarrentönen und nervösen Streichern. Im elektronisch-pluckernden Abschlusstrack „Croak“ klingt Avil fast wie Diamanda Gala, die gedankenverloren vor sich her stammelt. Abgründe, Zerrissenheit und Wahnsinn lauern in allen Tracks. Und doch: Bei aller Dekonstruktion von Rhythmus, Text und Tonalität bleibt das Werk zugänglich und harmonisch – darin liegt auch der Reiz dieses einzigartigen Albums.