Von Poltergeistern und Kuscheltieren

Durch­schnitt­li­che Lese­dauer 3 Minu­ten

Mike Kelley
„Ghost and Spirit“

Mike Kel­ley, bekannt für seine viel­sei­tige künst­le­ri­sche Pra­xis, die Instal­la­tio­nen, Skulp­tu­ren, Male­rei, Per­for­mance und Video umfasst, wurde am 27. Okto­ber 1954 in Wayne, Michi­gan gebo­ren. Seine Arbeit war stark von sei­ner Jugend in Detroit und sei­ner Aus­ein­an­der­set­zung mit Pop­kul­tur, Mas­sen­me­dien sowie psy­cho­lo­gi­schen und sozio­lo­gi­schen The­men geprägt. In jun­gen Jah­ren spielte er sel­ber in diver­sen Punk-Bands. Zu sei­nen Leh­rern am Cali­for­nia Insti­tute of Art gehör­ten unter ande­rem die Per­for­me­rin Lau­rie Ander­son und der Kon­zept-Künst­ler John Bal­dessari. Kel­ley galt als eine der ein­fluss­reichs­ten Figu­ren der zeit­ge­nös­si­schen Kunst­welt und hatte gro­ßen Ein­fluss auf eine ganze Gene­ra­tion von Künst­lern. Der unter Depres­sio­nen lei­dende Künst­ler starb am 31. Januar 2012 im Alter von 57 Jah­ren ver­mut­lich durch Selbst­mord in sei­nem Haus in South Pasa­dena, Kali­for­nien. Seine Arbei­ten wur­den welt­weit in renom­mier­ten Museen und Gale­rien aus­ge­stellt und haben eine blei­bende Wir­kung auf die Kunst­welt hin­ter­las­sen. Nun wid­met das K21 der Kunst­samm­lung NRW dem Künst­ler unter dem Titel „Ghost and Spi­rit“ eine spek­ta­ku­läre Retro­spek­tive (23.3. — 8.9.2024). Sie zeigt einen bun­ten Quer­schnitt von Kel­leys Instal­la­tio­nen, Per­for­man­ces und mul­ti­me­dia­len Wer­ken, die sich zumeist mit Okkul­tis­mus, Para­psy­cho­lo­gie und Psycho-Wel­ten beschäftigen.

Mike Kelley, Ahh...Youth! • 1991
Mike Kel­ley, Ahh…Youth! • 1991

Für Muiskkenner*innen ist der Künst­ler sicher kein Unbe­kann­ter: Ein Foto sei­ner iko­ni­sche Serie „Ahh…Youth!“ wurde weit­hin bekannt durch das Cover des Sonic Youths Albums Dirty aus dem Jahr 1992 und einen Drop aus dem Jahr 2018 des Street­wear-Labels Supreme. In die­ser Fotoreihe, Fahn­dungs­fo­tos von Außen­sei­tern nicht unähn­lich, glot­zen selbst­ge­hä­kelte Garn­pup­pen und Stoff­tiere sowie der Künst­ler selbst die Betrach­ten­den ver­ständ­nis­los an. Die Selbst­ka­ri­ka­tur des Künst­lers, sein apa­thi­sches, von Akne­nar­ben über­sä­tes jugend­li­ches Ich, prä­sen­tiert sich in einer Reihe mit den leid­lich kusche­li­gen, gru­se­li­gen Aus­ge­sto­ße­nen aus frü­hen Kin­der­ta­gen. Laut Kel­ley inter­pre­tier­ten frühe Betrachter*innen seine Stoff­tier-Arbei­ten als Ver­ar­bei­tung sei­ner eige­nen trau­ma­ti­schen Kind­heits­er­leb­nisse – mög­li­cher­weise gehe es gar um Kin­des­miss­brauch. Sol­che Ver­mu­tun­gen seien tat­säch­lich aber pro­ji­zierte Ängste, die even­tu­ell auf ver­drängte Erin­ne­run­gen der Betrach­ten­den beru­hen, ent­geg­nete Kel­ley. Über­haupt dreht sich die Werk­schau um die Frage: Was ist Erin­ne­rung und sind unsere Erin­ne­run­gen tat­säch­lich selbst erin­nert oder fül­len wir unsere „Lücken“ mit Erzähl­tem oder ergän­zen­den Phan­ta­sien, um ein durch­ge­hen­des Nar­ra­tiv zu erhal­ten? Dar­auf bezieht sich auch der Titel der Aus­stel­lung „Ghost and Spi­rit“. Ein Gespenst ist jemand, der/die ver­schwun­den ist, ein Geist aber ist eine Erin­ne­rung, die bleibt und die blei­ben­den Ein­fluss hat.

Mike Kelley, Auschnitt aus Extracurricular Activity Projektive Reconstration #27 (Gospel Rocket)
Mike Kel­ley, Aus­schnitt aus Extra­cur­ri­cu­lar Acti­vity Pro­jec­tive Recon­s­truc­tion #27 (Gos­pel Rocket)

Bildgewaltig, ausufernd, multimedial

So zeigt die Aus­stel­lung fik­tive und reale Texte, rekon­stru­iert Schul­thea­ter­auf­füh­run­gen, bedient sich bei Super­man-Comics und Por­nos, befasst sich mit Ufo­lo­gie und Über­sinn­li­chem. Mit die­sem wil­den Pot­pourri aus skur­ri­len Instal­la­tio­nen, iro­ni­schen Gra­fi­ken und kar­ne­val­esken Aktio­nen, raum­grei­fen­den Instal­la­tio­nen und wüs­ten Per­for­man­ces zwi­schen Frag­ment und Gesamt­kunst­werk hin­ter­fragt Kel­ley die Erklä­rungs­an­sätze der Wis­sen­schaft, unter­sucht die Prä­gun­gen durch Poli­tik und Erzie­hungs­sys­teme und the­ma­ti­siert Klas­sen- und Gen­der­zu­ge­hö­rig­keit. Man­ches wirkt vom Ansatz schlicht­weg banal, über­zeugt aber durch seine visu­elle Anzie­hungs­kraft und lässt viel Raum für eigene Inter­pre­ta­tio­nen. Nicht beson­ders sub­til zeigt er eine Kari­ka­tur des ame­ri­ka­ni­schen Repu­bli­ka­ners Jesse Helms mit einem Haken­kreuz auf der Stirn und pro­tes­tiert damit gegen die rechts­kon­ser­va­tiv moti­vierte Zen­sur der Kunst­för­de­rung. 1991 setzte der Poli­ti­ker in den USA eine Geset­zes­än­de­rung zur Kür­zung staat­li­cher Kul­tur­för­de­rung durch, Kel­ley selbst war davon auch betrof­fen. In sei­ner gro­ßen Raum­in­stal­la­tion „Kan­dors“ (1999–2011) beschäf­tigt sich Kel­ley mit dem ame­ri­ka­ni­schen Pop-Phä­no­men Super­man, des­sen Geschichte seit sei­ner Schöp­fung im Jahr 1938 in ver­schie­de­nen For­men immer wie­der erzählt wurde, und bie­tet dabei eine gran­diose Sze­ne­rie, ein mul­ti­me­dia­les Erleb­nis­feld mit aller­hand unter­schied­li­chen For­ma­ten – mehr­tei­lige Skulp­tu­ren, Bil­der in Form von Leucht­käs­ten, als Beams und Moni­tor­pro­jek­tio­nen und ein gleich­mä­ßig raum­über­span­nen­der Sound­tep­pich — und bie­tet damit ein fas­zi­nie­ren­des, atmo­sphä­risch dich­tes, mul­ti­me­dia­les Gesamt­ereig­nis mit viel Raum für Asso­zia­tio­nen und Spe­ku­la­tio­nen. „The Day is Done“, 2005 in der New Yor­ker Gagos­ian Gal­lery instal­liert, ist eine über­bor­dende Fülle aus Kulis­sen­ar­chi­tek­tur mit nach­in­sze­nier­ten Sze­nen zu Kar­ne­val, Hal­lo­ween und Schul­thea­ter. Für Kel­ley Ver­an­stal­tun­gen, die sich bewusst gegen gesell­schaft­li­che Kon­ven­tio­nen auf­leh­nen. Wer aller­dings alles letzt­end­lich ergrün­den will, wird wohl zwangs­läu­fig schei­tern. Irgend­wie auch Punk.


Sonic Youth, Dirty

Sonic Youth • Dirty
ver­öf­fent­licht: 20.07.1992 • Label: Geffen/MCA/Universal

Dirty, das achte Album der New Yor­ker Kult­band Sonic Youth – mit dem so typisch undurch­dring­li­chen Feed­back-Lärm, wum­mern­den Bass­li­nien, kan­ti­gen Gitar­ren und har­ten Drums, dazu der coole Gesang von Thur­s­ton Moore und Kim Gor­don. Stilprägend!

In: