Polly Jean „PJ“ Harvey wird 1969 in der englischen Grafschaft Dorset geboren und wächst dort bei ihren Hippie-Eltern auf, die sie mit Jazz und Blues, aber auch mit Jimi Hendrix und Captain Beefheart bekannt machen — musikalische Einflüsse, die auch hörbar als Unterbau in ihrer eigenen Musik anklingen. Zunächst lernt sie Saxophon, später dann Gitarre und bereits als Teenager beginnt sie, in Bands zu spielen, unter anderem bei Automatic Dlamini an der Seite von John Parish. 1991 gründet sie dann ihre eigene Band. Bereits ihr Debüt-Album „Dry” (1992) und auch der Nachfolger „Rid Of Me“ (1993) werden von der Musikkritik hochgelobt und gefeiert. 1989 lernt sie Nick Cave kennen, mit dem sie eine längere, intensive Beziehung verbindet. Ihr Gesangsduett in „Henry Lee“ ist einer der Höhepunkte des Murder-Ballads-Albums von 1996. 1999 bekommt sie für ihr „Stories From The City, Stories From The Sea”, bei dem neben Mick Harvey auch Radioheads Thom York mitwirkt, den renommierten Mercury Music Prize verliehen und 2011 gleich noch einmal für „Let England Shake“, PJs Abrechnung mit ihrer Heimat. Sie ist damit die erste Künstlerin überhaupt, die diesen Preis zweimal verliehen bekommt.
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PJ Harvey
I Inside the Old Year Dying
Veröffentlicht: 7. Juli 2023
Label: Partisan Records
Textausschnitt aus „I Inside the Old Dying”
The beech buds wait.
The aish buds wait.
The frogs and twoads in lagwood holes
And hedgehogs in their leafy ditch,
All waiting for His kingdom.
„I Inside the Old Year Dying“ wurde am 7. Juli 2023 über Partisan Records veröffentlicht und ist das nunmehr zehnte Studioalbum der englischen Singer-Songwriterin. Produziert wurde es gemeinsam mit Harveys alten Vertrauten Flood und John Parish und handelt „von der Intensität der ersten Liebe und der Suche nach Bedeutung”. Nach den beiden sehr politischen Alben „Let England Shake“, in dem sie überaus kritisch ihr Heimatland beleuchtet, sowie „The Hope Six Demolition Project“, quasi ein politischer Reisebericht durch Afghanistan, den Kosovo bis nach Washington D.C., ist dies also wieder ein introvertiertes Album. PJ Harvey besinnt sich einmal mehr auf ihre eigene, lyrische Kunst und Herkunft. So ist ein Großteil der Lyrics in einem schwer verständlichen Dialekt verfasst: Es ist die Sprache Dorsets, der britischen Grafschaft, in der sie ihre Kindheit verbrachte. Die Songs basieren auf dem ebenfalls in diesem Dialekt und komplett in Versform geschriebenen Roman „Orlam“, den sie im Mai 2022 veröffentlicht hat und der eine Art Coming-Of-Age-Geschichte der neunjährigen Ira-Abel erzählt. Vieles davon mag autobiografisch sein, aber da die Künstlerin wenig Privates preisgibt, läßt sich dies nicht genau benennen und so bleibt vieles im Vagen und Ungefähren — und das nicht nur wegen des schwer verständlichen Dialekts. Ira-Abel bewegt sich durch eine faszinierende Traumwelt voller Geister, Elfen und undurchdringlicher Wälder, halluziniert von Elvis oder taumelt durch karge Landschaften, dabei beschreibt Harvey auch all die provinziellen, alltäglichen Dinge einer Heranwachsenden, sei es Schule, Farmarbeit oder sexuelles Erwachen, wobei hinter allen Songs — selbst hinter den wohlklingendsten Melodien — immer ein stetiger, unterschwelliger Horror und eine tiefe, düstere Abgründigkeit lauern. Musikalisch verpackt Harvey ihre bedeutungsschwangeren, kryptischen Lyrics in minimalistischer Instrumentierung mit Folkanleihen, fließenden Saitenarrangements und Field-Recordings aus der Natur, ganz selten heult auch schon mal die gewohnt schrammelige Gitarre auf. Und wenn dieses Album auch weit von dem rohen, krachigen Debüt „Dry“ aus dem Jahr 1992 entfernt ist, ist es doch eine PJ-Harvey-Platte: Das Werk einer außergewöhnlichen Musikerin, die sich längst aus dem reinen Alternative-Rock-Milieu entfernt hat. „Are you Elvis? Are you God? / Jesus sent to win my trust? / ‚Love Me Tender‘ are his words / As I have loved you, so you must …“ We still love you, Polly Jean!