In Chicago, Illinois entsteht 1992 die Band Shellac: Gitarrist und Sänger Steve Albini schließt sich mit Bassist Camilo Gonzalez und Drummer Todd Trainer zu einer losen Formation zusammen. Gonzalez steigt allerdings nach kurzer Zeit wieder aus und wird durch Bob Weston ersetzt. Der minimalistische, präzise Stil voller Dissonanzen und treibender Bassläufe der so entstandenen Noise-Rockband ist einzigartig. Er ist geprägt von einem rough-analogen knochentrockenen Sound ohne Elektronik, ohne Strophe-Refrain-Schemata und den surrealen, bissigen Lyrics Albinis. Ihr Debütalbum „At Action Park“ wird zum Klassiker des Noise-Rocks. Zwischen den einzelnen Shellac-Alben liegen immer sehr lange Pausen. Shellac hält nichts von einer businessüblichen Abfolge von Albumrelease mit anschließender Tour. „You can expect the band to tour at its usual sporadic and relaxed pace“, heißt es lapidar in der Band-Info auf der Label-Website. So bleibt der Output der Band über all die Jahre bescheiden. Am 17. Mai 2024 erscheint ihr sechstes, aber auch letztes Album „To All Trains“ – die Veröffentlichung erlebt Steve Albini, der vor allem als Produzent wegweisender Bands wie Nirvana, Pixies, The Breeders, Songs: Ohio und PJ Harvey Berühmtheit erlangte, nicht mehr: Er stirbt 61-jährig eine Woche vor der Veröffentlichung an einem Herzinfarkt.
Textausschnitt aus „How I Wrote How I Wrote Elastic Man”
Before we start, I must explain
The title once was Sauerkraut
Here I get ahead of me
The songs aren’t even written yet
Begin again
Das aus 10 Tracks bestehende sechste Studioalbum „To All Trains“ wird also nach dem Tod des legendären Produzenten und Musikers Steve Albini wohl auch definitiv das letzte Shellac-Album sein. Es ist schon erstaunlich, dass diese Band in den dreißig Jahren ihres Bestehens lediglich sechs Alben hinterlassen hat. Vielleicht liegt es daran, dass es sich um drei Typen handelt, die sich zwei- oder dreimal im Jahr sporadisch treffen, um entspannt einige neue Melodien auszuprobieren und ein paar Bier zu trinken. Realisiert hat das Trio „To All Trains“ über fast fünf Jahre hinweg zwischen November 2017 und März 2022 in einer Reihe von Wochenendsessions. Albini hat das Album wie immer in seinem Electrical Audio Studio in Chicago selbst aufgenommen und gemischt, um es gemeinsam mit Bassist Bob Weston zu mastern. Ebenfalls normal für Shellac: Für dieses Album wird es keine Werbung, keine Presse- oder Radiopromotion, keine E‑Promotion, keine Werbe- oder Rezensionsexemplare, keine Werbegimmicks und „kein kostenloses Mittagessen“ geben, wie das Label Touch & Go verlautbaren lässt. An kommerziellem Erfolg ist und war das Trio nie interessiert.
Musikalisch auf den Punkt, textlich mit viel Humor
„To All Trains” ist nur 28 Minuten lang, die Tracks fallen also entsprechend kurz aus: Der längste dauert knapp viereinhalb Minuten. Aber sie klingen trotz des rauen Lärms, den die drei veranstalten, selbst mit einem Handy auf Bluetooth-Kopfhörer gestreamt, präzise und konturiert – aber klar: Hier saß Master Albini an den Reglern des Mischpults. Musikalisch überzeugt die Band wie gewohnt. Mit Albinis rockigen, wuchtigen Riffs, Bob Westons trockenen, tiefsitzenden Basslinien und Todd Trainers präzisem, dynamischem Drumming katapultiert sich das Trio in den Rock-Olymp. Lyrisch gibt man sich cool und humorvoll – man hat schließlich schon alles erlebt. So gibt sich Albini mit Bassist Weston „High Five“ zu einem Ass-Kicking-Song, kommentiert lakonisch und ironisch in dem Piratensong „Scrappers“ die alltägliche prekäre Situation in den USA. Auf „Chick New Wave“ behauptet Albini, keine Musik mehr von irgendwelchen Typen hören zu wollen, da gibt es nur anstrengenden Gesang, blökendes Saxophon und zwei-Finger-Gitarre, alles über eine schlechte PA – um wieviel besser sind da die Songs von Frauen! Meint er das ernst? In dem melodiösen, rockigen „How I Wrote How I Wrote Elastic Man (Cock & Bull)“ erzählt Albini augenzwinkernd von seinem Scheitern, einen Kiss-Song zu schreiben : „It’s all too complex / To be captured here”. Und fast schon in die Zukunft schauend, heißt es im letzten Track dieses phantastischen Rock-Monsters: „When this is over, I’ll leap into my grave like the arms of a lover / If there’s a heaven, I hope they’re having fun, and if there’s a Hell, I’ll know everyone“ — es schmerzt, dass dies das letzte Album dieser kompromisslosen Noise-Rocker ist.