Der Traum von der Unsterblichkeit

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Mit seinem zweiten Roman „Kachelbads Erbe“ gelingt dem Musiker und Autor Hendrik Otremba eine vielschichtige Reflexion über den Tod und das Überleben, über die Vergangenheit und die Zukunft – in einer fesselnden, lakonischen Sprache.

Hen­drik Otremba, gebo­ren 1984 in Reck­ling­hau­sen, ist ein deut­scher Schrift­stel­ler, bil­den­der Künst­ler und Sän­ger der Müns­te­ra­ner Post-Punk-Band Mes­ser. Zudem arbei­tet er als Dozent für krea­ti­ves Schrei­ben. Seine Gemälde wur­den in ver­schie­de­nen Maga­zi­nen und als Album­co­ver ver­öf­fent­licht. Er ist außer­dem Autor meh­re­rer Romane, dar­un­ter „Kachel­bads Erbe“, der im August 2019 bei Hoff­mann und Campe erschien. Vom jüdi­schen Wien der Jahr­hun­dert­wende bis ins schwule New York der frü­hen 1980er Jahre nimmt uns Hen­drik Otrem­bas zwei­ter Roman mit auf eine Reise in die Ver­gan­gen­heit, um über die Zukunft nachzudenken.

Einfrieren, um zu überleben

Die Haupt­fi­gur, der deut­sche Aus­wan­de­rer H. G. Kachel­bad, ist ein eigen­tüm­li­cher Anti­held, der sich zwi­schen Ratio­na­li­tät, Ver­ant­wor­tung und sei­nen eige­nen Abgrün­den bewegt. Kachel­bad arbei­tet für Exit U.S., ein Unter­neh­men, das sich auf Kryo­nik spe­zia­li­siert hat – die Kon­ser­vie­rung von Lei­chen durch Ein­frie­ren mit der Hoff­nung auf zukünf­tige Wie­der­be­le­bung. Bereits 2016 erschien übri­gens eine EP von Otrem­bas Band Mes­ser eben­falls unter dem Titel Kachel­bad. Im Roman besteht Kachel­bads Auf­gabe darin, ver­stor­bene Per­so­nen ein­zu­frie­ren, die aus unter­schied­li­chen Grün­den hof­fen, in einer zukünf­ti­gen Zeit wie­der­be­lebt zu wer­den und wei­ter­le­ben zu kön­nen. Die mensch­li­che Sehn­sucht nach Unsterb­lich­keit, die Angst vor dem Tod oder das Hof­fen auf ein Wie­der­se­hen sind einige der Gründe für die­sen bizar­ren Wunsch – Ängste und Hoff­nun­gen, derer sich sonst zumeist die Reli­gio­nen anneh­men.
Nach dem Tod sei­nes Chefs Lee Won-Hong über­nimmt Kachel­bad die Lei­tung des Unter­neh­mens. Er hat dabei jedoch nicht nur mit wirt­schaft­li­chen Schwie­rig­kei­ten zu kämp­fen, son­dern auch mit sei­ner Rolle als mora­li­scher Wäch­ter der ein­ge­fro­re­nen Kör­per, die Exit U.S. betreut. Diese „kal­ten Mie­ter“ sind Men­schen, die in der Hoff­nung auf eine zweite Chance in einer bes­se­ren Zukunft ihre Kör­per der Firma über­las­sen haben. Die Schick­sale die­ser Neben­fi­gu­ren – dar­un­ter ein geschei­ter­ter Schrift­stel­ler, eine ukrai­ni­sche Wis­sen­schaft­le­rin und ein viet­na­me­si­scher Auf­trags­kil­ler – wer­den aus ihren jewei­li­gen Per­spek­ti­ven beschrie­ben und berei­chern die Hand­lung mit einer sur­rea­len und melan­cho­li­schen Atmo­sphäre.
Die indi­vi­du­el­len Geschich­ten der Cha­rak­tere spie­geln dabei The­men wie Außen­sei­ter­tum, Ver­lo­ren­heit und Ver­gäng­lich­keit wider. Sie beschrei­ben die viel­fäl­ti­gen Abgründe und Sehn­süchte der mensch­li­chen Exis­tenz. So ent­steht eine dichte Erzähl­struk­tur mit unzäh­li­gen Erzähl­ebe­nen, in der die Gren­zen zwi­schen Rea­li­tät, Erin­ne­rung und Ima­gi­na­tion ver­schwim­men. Die zwi­schen­mensch­li­chen Bezie­hun­gen wer­den zuneh­mend kom­ple­xer und zeich­nen den­noch ein immer kla­re­res Por­trät der Hauptfigur.

Unsterblich und unsichtbar

Der Roman stellt dabei ethi­sche Fra­gen rund um die Kryo­nik und stellt die Sehn­sucht nach einem zwei­ten, bes­se­ren Leben kri­tisch in Frage. Dane­ben spielt auch die Unsicht­bar­keit eine zen­trale und viel­schich­tige Rolle, die sowohl auf sym­bo­li­scher als auch auf erzäh­le­ri­scher Ebene Bedeu­tung hat. Auch hier gibt es eine Ver­bin­dung zu sei­ner Band Mes­ser: 2013 ver­öf­fent­lichte die Band ihr zwei­tes Album mit dem Titel „Die Unsicht­ba­ren“. Otremba ver­knüpft damit The­men wie Iden­ti­tät, mensch­li­che Exis­tenz und Ver­ges­sen in ihren ver­schie­de­nen Facet­ten. Zudem sin­niert er über das Ende des Anthro­po­zäns, jenes Zeit­al­ters, das vom Men­schen geprägt und letzt­end­lich auch zer­stört wird. Denn obwohl die Men­schen wis­sen und ver­stan­den haben, dass sie dem Unter­gang geweiht sind, wenn sie nicht gemein­sam nach Lösun­gen suchen, schie­ben sie die Ver­ant­wor­tung auf andere, um sich selbst aus der Affäre zu zie­hen. So lädt Kachel­bads Erbe dazu ein, über die Gren­zen des Lebens, die Mög­lich­kei­ten der Spra­che und die Angst vor dem Ver­ges­sen­wer­den nach­zu­den­ken. Ganz neben­bei erzählt der Roman noch eine ergrei­fende, schwule Lie­bes­ge­schichte. Damit ist Hen­drik Otremba ein viel­schich­ti­ger Roman gelun­gen, der sprach­lich zwar nicht immer über­zeugt, aber den­noch zu fes­seln weiß.

Hendrik Otremba, Kachelbads Erbe

Hen­drik Otremba
Kachel­bads Erbe
432 Sei­ten
Ver­lag: Hoff­man und Campe

Andere Meinungen:

Ein Plä­doyer für eine neue Lite­ra­tur des Gefühls 

Dirk Schnei­der, ZDF aspekte, 23. August 2019

Otremba flicht das Über­na­tür­li­che so bei­läu­fig in die Wirk­lich­keit ein, dass es kaum auffällt.

Luise Chec­chin, Süd­deut­sche Zei­tung, 06. Novem­ber 2019