Geboren 1950 in Birmingham, Alabama – oder war es doch 1951? – beginnt Holleys Leben mit einer Unklarheit, die sinnbildlich für vieles stehen kann. Sein genaues Geburtsdatum ist unbekannt. Vielleicht, weil man sich in jenen Tagen und in jener Welt wenig Zeit nahm für Dokumente, wenn es um schwarze Kinder ging. Vielleicht auch, weil Lonnie Holley von Anfang an eher ein Mythos war als ein messbares Subjekt. Als siebtes von 27 Kindern geboren, wurde er nach eigenen Angaben im Alter von vier Jahren in einem Bordell für ein Pint Whiskey an einen Alkoholschmuggler (bootlegger) verkauft. Was wie ein düsteres Südstaatenmärchen klingt, ist die bittere Realität einer außergewöhnlichen Biografie. Holley schlägt sich durch, wortwörtlich – mit Gelegenheitsjobs, Fabrikarbeit, frühe Berührung mit Gefängnismauern. Irgendwann beginnt er sich kreativ zu beschäftigen. Seine ersten Arbeiten sind die Grabsteine für seine Nichten. Danach entstehen aus Fundstücken, Blech, Draht, Knochen, Kinderschuhen, geborstenen Fernsehern Skulpturen, Assemblagen und Objekte. Seine Werke erzählen von Spiritualität, Umweltzerstörung, schwarzer Geschichte und Verlust. Er ist ein Autodidakt in der Tradition der afroamerikanischen „outsider artists“, ein Selfmade-Prophet. Seine Skulpturenlandschaft rund um sein Haus in Birmingham wird bald zum Pilgerort für Sammler und Kuratoren. Die US-amerikanische Forschungs- und Bildungseinrichtung Smithsonian nimmt ihn wahr, ebenso das American Folk Art Museum. Doch was ihn auszeichnet, ist nicht allein die kreative Arbeit mit Materialien, sondern seine tiefgründige, musikalische Seele. In seinen späteren Jahren tritt Holley auch als Musiker hervor – mit einer Stimme wie ein altes Radio, das gleichzeitig flüstert und brüllt. Improvisierte Klanglandschaften, tranceartige Refrains, die an Sun Ra, Gil Scott-Heron oder Arthur Russell erinnern. Seine Alben wie „Just Before Music“ (2012) oder „MITH“ (2018) sind keine Songsammlungen, sondern eher musikalische Skulpturen oder auch vertonte Zeitreisen. Lonnie Holley ist der lebende Beweis, dass sich Genius nicht aus Diplomen, Galerien oder überhöhter Selbstinszenierung speist – sondern aus Widerstandskraft, Mut und Vision.
Oh, I wish I could rob my memory.
Textausschnitt aus „Seeds“
I’d be like Midas and turn my thoughts to golde
„Oh, I wish I could rob my memory. I’d be like Midas and turn my thoughts to gold“, sagt Lonnie Holley im Eröffnungsstück „Seeds“. Eine Zeile, die sich wie ein Mantra durch sein siebtes Studioalbum „Tonky“ zieht. Schmerz, Überleben, Spiritualität und kollektive Erinnerung verdichten sich zu einer Art afroamerikanischem Soundtrack.
Eine Hymne an die Erinnerung
„Tonky“, benannt nach einem Spitznamen aus Holleys Kindheit, beginnt mit einer neunminütigen Tour de Force über seine Jugend im berüchtigten Alabama Industrial School for Negro Children – einer Art Straflager für Schwarze Kinder. In dem Opener „Seeds“ geht es um Folter, Hunger und Gewalt. Doch statt in Selbstmitleid zu verfallen, verwandelt Holley das Erlebte in eine beschwörende Klangarchitektur: klagende Streicher, bedrohliche Beats und darüber seine eindringliche, sprechende Stimme – rau, warm und voller Würde. Es ist, als wolle er sich erinnern, um andere vor ähnlichem Leid zu bewahren. Erinnern, mitteilen – dieses Prinzip zieht sich durch das ganze Album. In „Protest With Love“ wählt er dafür einen anderen musikalischen Stil. Es ist wie ein euphorischer Marsch mit Gospel-Chor, fröhlichen Hörnern und der Aufforderung, mit Liebe als Waffe auf die Straße zu gehen. Ein Hauch Marvin Gaye durchzieht den Track. Hoch- und Popkultur verschmelzen zu einer Form von Afrofuturismus.
Erinnerung als Widerstand
Produziert wurde das siebte Studioalbum des über 70-Jährigen erneut von Jacknife Lee, der Holleys unverkennbaren Handmade-Sound mit elektronischen Texturen und orchestralen Elementen anreichert. Es ist ein kollaboratives Album, dessen Vielzahl prominenter Gäste für einen vielschichtigen, abwechslungsreichen Sound sorgt: Angel Bat Dawid, Isaac Brock (Modest Mouse), Open Mike Eagle, Saul Williams, Alabaster DePlume, Harfenistin Mary Lattimore – sie alle fügen sich in dieses kollektive Erinnerungsritual ein. Besonders ergreifend: „The Same Stars“, in dem Holley, der 82-jährige Bildhauer Joe Minter und Rapper Open Mike Eagle in einer Art kosmischem Dialog die Sterne besingen, die ihre Urahnen auf den Sklavenschiffen sahen – und die heute noch scheinen. „Those Stars Are Still Shining“ spenden Trost und versprühen ein spirituelles Leuchten. Oder, wie es im Song heißt: „Even in the midst of the purest darkness, we are there, illuminated.“ „What’s Going On?“ mag im Titel an Marvin Gayes Hit erinnern, unterscheidet sich aber – mit Isaac Brock als Sänger und wilden, tribalistischen Drums – musikalisch ganz erheblich vom Soulklassiker der Siebziger.
Nie vergessen
„Tonky“ ist voller Schmerz, aber auch voller Schönheit, voller Trauer, aber auch von zärtlichem Humor durchzogen. Es schichtet Soul, Jazz, Funk, improvisierte Musik, Blues und Elektronik zu einem Werk, das sich jedem Genrebegriff entzieht. Holley hat nie vergessen – und indem er erzählt, ermöglicht er anderen, nicht vergessen zu müssen.