Nach seinem gefeierten Debüt „Aus dem Dachsbau“, das mit dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Wiesbaden ausgezeichnet wurde, beschreibt Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow in „Ich tauche auf“ das Jahr 2020 aus seiner Sicht. Ein Jahr äußersten Stillstands — geprägt von einer Pandemie, die alles Bisherige auf den Kopf stellte. Am 22. März 2020 verhängt die Regierung den ersten Lockdown, der zunächst für zwei Wochen ausgelegt ist. Es sollen viele weitere Monate mit Kontaktbeschränkungen folgen. Lowtzow beginnt seine Aufzeichnungen am 21. März, seinem 49. Geburtstag, und endet nach genau einem Jahr zum Fünfzigsten. Später wird er sagen: „Ich möchte von diesem traurigen Jahr erzählen, als wäre es die schönste Zeit meines Lebens gewesen.“
„Ich tauche auf“ gerät, wie so oft bei Tagebüchern, zu einem Sammelsurium von Erinnerungen, Assoziationen und gedanklichen Ausschweifungen, dazu Notizen des Alltags: chronische Rückenschmerzen, Schlaflosigkeit, depressive Anfälle, kreative Krisen und ein Alltag ohne große Veränderung. Vieles klingt vertraut, weckt Erinnerungen an den eigenen Zustand in diesem angeordneten Ruhezustand. Lowtzow geht viel in der Natur spazieren, sucht Trost und Unterhaltung in Literatur und Filmen, sieht die Stadt, in der er lebt, plötzlich mit anderen Augen. Erfahrungen und Erlebnisse, die wir so oder so ähnlich auch in dieser seltsamen Zeit gemacht haben. Bei dem Musiker kommt hinzu, dass seine gesamte künstlerische Arbeit ebenfalls unter diesem Stillstand zu leiden hat — so erfährt man, wie sich die Arbeit rund um das geplante Tocotronic-Album „Nie wieder Krieg“ immer wieder verzögert, dass die Veröffentlichung verschoben wird und Termine abgesagt werden müssen. Einige Eintragungen triefen vor Selbstmitleid, andere sind melancholisch, aber wahrhaftig, wieder andere anekdotenhaft und amüsant, dazwischen aber auch: „Einer dieser ereignislosen Tage. Abends schickt Isabelle eine SMS: ‚Aus Mozart Tagebuch 1770: Gar nichts erlebt. Auch schön.‘“ So gibt es immer wieder Freunde, Künstlerkolleg*innen und Bandmitglieder, die ihn aus seiner Umnebelung und seinen Selbstzweifeln reißen. Tocotronic war schon immer eine Band, bei der sich viel um die Befindlichkeiten und Gefühlslagen der Protagonisten dreht – und das ist diesem kleinen Büchlein auch deutlich anzumerken. Unterhaltsam ist es allemal.
Eine kleine Anmerkung am Rande: Ebenfalls bei Kiepenheuer&Witsch erschienen ist „Im Jahr der Affen“. Darin unternimmt Patti Smith ähnlich wie Lowtzow eine sehr persönliche Bestandsaufnahme über exakt ein Jahr. Sie schreibt über das Jahr 2016, im chinesischen Horoskop das Jahr des Affen, ein Jahr geprägt von persönlichen Verlusten und Abschieden, aber auch von politischen Verwerfungen. Es ist das Jahr, in dem Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wird. Und wie bei Lowtzow endet das Buch mit einem Geburtstag – bei Smith ist es ihr siebzigster. Nur handelt es sich hierbei nicht um ein Tagebuch, sondern eher um ein „Road-Memoir“. Auf jeden Fall empfehlenswert.
Dirk von Lowtzow
Ich tauche auf
240 Seiten
Verlag: Kiepenheuer&Witsch
Andere Meinungen:
Der Tocotronic-Sänger führt Tagebuch über ein Jahr zwischen Isolation und Hoffnung. Aus der Sicht eines großen Kindes entdeckt er in seiner Umwelt fantastische Motive und gibt seltene Einblicke in sein Privatleben.
laut.de, 16. März 2023
Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow protokolliert ein Jahr Pandemie und was es mit ihm gemacht hat. Dieses Buch ist wie ein großartiges Sittengemälde, das uns erinnern wird, wie es war.
Welt am Sonntag, 5. März 2023