,

Lonnie Holley

Durch­schnitt­li­che Lese­dauer 3 Minu­ten

Gebo­ren 1950 in Bir­ming­ham, Ala­bama – oder war es doch 1951? – beginnt Hol­leys Leben mit einer Unklar­heit, die sinn­bild­lich für vie­les ste­hen kann. Sein genaues Geburts­da­tum ist unbe­kannt. Viel­leicht, weil man sich in jenen Tagen und in jener Welt wenig Zeit nahm für Doku­mente, wenn es um schwarze Kin­der ging. Viel­leicht auch, weil Lon­nie Hol­ley von Anfang an eher ein Mythos war als ein mess­ba­res Sub­jekt. Als sieb­tes von 27 Kin­dern gebo­ren, wurde er nach eige­nen Anga­ben im Alter von vier Jah­ren in einem Bor­dell für ein Pint Whis­key an einen Alko­hol­schmugg­ler (boot­leg­ger) ver­kauft. Was wie ein düs­te­res Süd­staa­ten­mär­chen klingt, ist die bit­tere Rea­li­tät einer außer­ge­wöhn­li­chen Bio­gra­fie. Hol­ley schlägt sich durch, wort­wört­lich – mit Gele­gen­heits­jobs, Fabrik­ar­beit, frühe Berüh­rung mit Gefäng­nis­mau­ern. Irgend­wann beginnt er sich krea­tiv zu beschäf­ti­gen. Seine ers­ten Arbei­ten sind die Grab­steine für seine Nich­ten. Danach ent­ste­hen aus Fund­stü­cken, Blech, Draht, Kno­chen, Kin­der­schu­hen, gebors­te­nen Fern­se­hern Skulp­tu­ren, Assem­bla­gen und Objekte. Seine Werke erzäh­len von Spi­ri­tua­li­tät, Umwelt­zer­stö­rung, schwar­zer Geschichte und Ver­lust. Er ist ein Auto­di­dakt in der Tra­di­tion der afro­ame­ri­ka­ni­schen out­si­der artists“, ein Self­made-Pro­phet. Seine Skulp­tu­ren­land­schaft rund um sein Haus in Bir­ming­ham wird bald zum Pil­ger­ort für Samm­ler und Kura­to­ren. Die US-ame­ri­ka­ni­sche For­schungs- und Bil­dungs­ein­rich­tung Smit­h­so­nian nimmt ihn wahr, ebenso das Ame­ri­can Folk Art Museum. Doch was ihn aus­zeich­net, ist nicht allein die krea­tive Arbeit mit Mate­ria­lien, son­dern seine tief­grün­dige, musi­ka­li­sche Seele. In sei­nen spä­te­ren Jah­ren tritt Hol­ley auch als Musi­ker her­vor – mit einer Stimme wie ein altes Radio, das gleich­zei­tig flüs­tert und brüllt. Impro­vi­sierte Klang­land­schaf­ten, trance­ar­tige Refrains, die an Sun Ra, Gil Scott-Heron oder Arthur Rus­sell erin­nern. Seine Alben wie Just Before Music“ (2012) oder MITH“ (2018) sind keine Song­samm­lun­gen, son­dern eher musi­ka­li­sche Skulp­tu­ren oder auch ver­tonte Zeit­rei­sen. Lon­nie Hol­ley ist der lebende Beweis, dass sich Genius nicht aus Diplo­men, Gale­rien oder über­höh­ter Selbst­in­sze­nie­rung speist – son­dern aus Wider­stands­kraft, Mut und Vision.

Lonnie Hollie, Tonky

Lonnie Holley

Tonky

Ver­öf­fent­licht: 07.03 2025
Label: Jag­ja­gu­war

Oh, I wish I could rob my memory.
I’d be like Midas and turn my thoughts to golde

Text­aus­schnitt aus Seeds“

Oh, I wish I could rob my memory. I’d be like Midas and turn my thoughts to gold“, sagt Lon­nie Hol­ley im Eröff­nungs­stück Seeds“. Eine Zeile, die sich wie ein Man­tra durch sein sieb­tes Stu­dio­al­bum Tonky“ zieht. Schmerz, Über­le­ben, Spi­ri­tua­li­tät und kol­lek­tive Erin­ne­rung ver­dich­ten sich zu einer Art afro­ame­ri­ka­ni­schem Soundtrack.

Eine Hymne an die Erinnerung

Tonky“, benannt nach einem Spitz­na­men aus Hol­leys Kind­heit, beginnt mit einer neun­mi­nü­ti­gen Tour de Force über seine Jugend im berüch­tig­ten Ala­bama Indus­trial School for Negro Child­ren – einer Art Straf­la­ger für Schwarze Kin­der. In dem Ope­ner Seeds“ geht es um Fol­ter, Hun­ger und Gewalt. Doch statt in Selbst­mit­leid zu ver­fal­len, ver­wan­delt Hol­ley das Erlebte in eine beschwö­rende Klang­ar­chi­tek­tur: kla­gende Strei­cher, bedroh­li­che Beats und dar­über seine ein­dring­li­che, spre­chende Stimme – rau, warm und vol­ler Würde. Es ist, als wolle er sich erin­nern, um andere vor ähn­li­chem Leid zu bewah­ren. Erin­nern, mit­tei­len – die­ses Prin­zip zieht sich durch das ganze Album. In Pro­test With Love“ wählt er dafür einen ande­ren musi­ka­li­schen Stil. Es ist wie ein eupho­ri­scher Marsch mit Gos­pel-Chor, fröh­li­chen Hör­nern und der Auf­for­de­rung, mit Liebe als Waffe auf die Straße zu gehen. Ein Hauch Mar­vin Gaye durch­zieht den Track. Hoch- und Pop­kul­tur ver­schmel­zen zu einer Form von Afrofuturismus.

Erinnerung als Widerstand

Pro­du­ziert wurde das siebte Stu­dio­al­bum des über 70-Jäh­ri­gen erneut von Jack­nife Lee, der Hol­leys unver­kenn­ba­ren Hand­made-Sound mit elek­tro­ni­schen Tex­tu­ren und orches­tra­len Ele­men­ten anrei­chert. Es ist ein kol­la­bo­ra­ti­ves Album, des­sen Viel­zahl pro­mi­nen­ter Gäste für einen viel­schich­ti­gen, abwechs­lungs­rei­chen Sound sorgt: Angel Bat Dawid, Isaac Brock (Modest Mouse), Open Mike Eagle, Saul Wil­liams, Ala­bas­ter DePlume, Har­fe­nis­tin Mary Lat­ti­more – sie alle fügen sich in die­ses kol­lek­tive Erin­ne­rungs­ri­tual ein. Beson­ders ergrei­fend: The Same Stars“, in dem Hol­ley, der 82-jäh­rige Bild­hauer Joe Min­ter und Rap­per Open Mike Eagle in einer Art kos­mi­schem Dia­log die Sterne besin­gen, die ihre Urah­nen auf den Skla­ven­schif­fen sahen – und die heute noch schei­nen. Those Stars Are Still Shi­ning“ spen­den Trost und ver­sprü­hen ein spi­ri­tu­el­les Leuch­ten. Oder, wie es im Song heißt: Even in the midst of the purest dark­ness, we are there, illu­mi­na­ted.“ What’s Going On?“ mag im Titel an Mar­vin Gayes Hit erin­nern, unter­schei­det sich aber – mit Isaac Brock als Sän­ger und wil­den, tri­ba­lis­ti­schen Drums – musi­ka­lisch ganz erheb­lich vom Soul­klas­si­ker der Siebziger.

Nie vergessen

Tonky“ ist vol­ler Schmerz, aber auch vol­ler Schön­heit, vol­ler Trauer, aber auch von zärt­li­chem Humor durch­zo­gen. Es schich­tet Soul, Jazz, Funk, impro­vi­sierte Musik, Blues und Elek­tro­nik zu einem Werk, das sich jedem Gen­re­be­griff ent­zieht. Hol­ley hat nie ver­ges­sen – und indem er erzählt, ermög­licht er ande­ren, nicht ver­ges­sen zu müssen.