Die amerikanische Band aus Philadelphia They Are Gutting a Body of Water (TAGABOW) entstand aus dem Solo-Projekt von Doug Dulgarian und zählt heute zu den eigenwilligsten Shoegaze- und Noise-Acts des US-Undergrounds. Seit 2021 besteht die Band aus Dulgarian, Emily Lofing, PJ Carroll und Ben Opatut. Bekannt für ihre intensiven Liveshows, bei denen sie im Kreis und auf dem Boden spielen, verbindet TAGABOW rohe Gitarrenwände mit Drum’n’Bass-Einsprengseln und einer konsequenten DIY-Ästhetik. Frontmann Dulgarian, aufgewachsen im Hudson Valley und Sohn eines Dirt-Track-Rennfahrers prägt mit seinen (Drogen-)Erfahrungen Sound und Haltung der Band entscheidend. Mit seinem Label Julia’s War förderte er zudem wegweisende Newcomer der Indie-Szene. Seine Texte kreisen um Sucht, Klarheit und die Suche nach Echtheit in einer überdigitalisierten Welt – Themen, die TAGABOWs kompromisslose Energie und Dringlichkeit prägen.
The benefit of believing you′re bad
Is that you get somebody to blame
Tell me there′s a better one
And ill go get my gunTextausschnitt aus „american food“
Auf LOTTO, dem vierten Studioalbum von TAGABOW, werfen die Amerikaner alle digitalen Spielereien über Bord. Stattdessen gibt es einen echten Raum, echte Instrumente, echte Emotion: „vier Menschen in einem Raum, die live auf Band aufnehmen“ — wie Sänger und Kopf Doug Dulgarian es selbst nennt. Und so wirkt das ganze Album wie eine bewusste Verweigerung gegen künstliche Glätte in einer zunehmend digitalisierten Welt.
Shoegaze im neuen Gewand
Auch wenn viele Reveiws es suggerieren: Lotto ist kein weiteres Shoegaze-Album im Sinne des Genres. Die Band nutzt Shoegaze nicht als Stilmittel zur Erzeugung von Atmosphäre, sondern als Rohmaterial, das fragmentiert, übersteuert und neu angeordnet wird. Das Ergebnis ist ein Album, das sich bewusst der Kategorisierung entzieht und die Bedingungen zeitgenössischer Gitarrenmusik definiert: Überforderung, Fragmentierung und emotionale Daueranspannung. Rohe, röhrende Gitarren, donnerndes Schlagzeug, verzerrte Wände und Fuzz bis zum Anschlag. Die Songstrukturen sind knackig, oft kurz und auf den Punkt gebracht. Doch gerade in ihrer Simplizität entfaltet sich eine hypnotische Intensität: Mal schleppend und nachdenklich („sour diesel“), mal eruptiv und verzweifelt („the chase“, „violence iii“) — ein Wechselspiel aus Chaos und Klarheit.
Persönlich bis zur Schmerzgrenze
Was LOTTO ebenfalls besonders macht, sind die Texte: persönlich, direkt, manchmal brutal ehrlich. Frontmann Doug Dulgarian trägt das Album mit Texten, die so ungeschönt sind, dass sie manchmal kaum auszuhalten sind. Drogenerfahrungen, Entzug, Alltagstristesse, der ewige Wunsch nach einem Ausweg – LOTTO wirkt wie ein Tagebuch, das man eigentlich nicht lesen darf. Gleich in dem Opener „the chase“ dokumentiert Dulgarians schonungslos seinen Start ins Jahr 2025: Ein nüchternes Protokoll eines Neujahrsmorgens im Fentanyl-Entzug, gefolgt von der Erkenntnis, wie absurd der Drang nach Erlösung durch „mehr kaufen, mehr scrollen, mehr konsumieren“ ist. Spätere Songs wie „rl stine“ zeichnen das Bild von Mitmenschlichkeit, sozialer Verwahrlosung und innerer Zerrissenheit — und lassen uns hautnah spüren, wie dünn die Linie zwischen Empathie und Selbstzerstörung verlaufen kann.
Relevanz und Verletzlichkeit
In Zeiten, in denen Musik oft über Algorithmen, Playlists und Oberflächlichkeit definiert wird, steht LOTTO für das Gegenteil: Relevanz, Verletzlichkeit, echte Kunst. Kritiker*innen loben das Album als „widerstandsfähig, ehrlich und zutiefst menschlich“ — als Statement gegen eine zunehmend homogene Musikwelt. Ein Werk, das dich nicht nur durch Klang berührt, sondern durch seine Bereitschaft, Widersprüche hörbar und fühlbar zu machen. „The benefit of believing you’re bad /Is that you get somebody to blame.“


