Stuff of Life

Den eng­li­schen Best­sel­ler­au­tor David Mit­chell kennt man wahr­schein­lich als Autor des Romans „Cloud Atlas“, der durch die Ver­fil­mung von Tom Tykwer auch hier­zu­lande zu einem Best­sel­ler avan­cierte. In sei­nem neuen neuen Roman „Uto­pia Ave­nue“, der mit über sie­ben­hun­dert Seite noch gewal­ti­ger als sein Best­sel­ler aus­fällt und der im eng­li­schen Ori­gi­nal 2020 her­aus­kam, rekon­stru­iert Mit­chell akri­bisch die Musik­kul­tur der 68er. Es ist die Geschichte vom rasan­ten Auf­stieg der fik­ti­ven Lon­do­ner Psy­che­de­lic-Folk­rock-Band Uto­pia Ave­nue. Hier trifft man auf den Arbei­ter­sohn Dean Moss, als begna­de­ter Bas­sist zustän­dig für die R&B‑Wurzeln der Band, den Jazz-Schlag­zeu­ger aus gutem Haus Griff Grif­fin, die Folk-Sän­ge­rin und Mul­ti­in­stru­men­ta­lis­tin Elf Hol­lo­way sowie den schein­bar autis­ti­schen Lead­gi­tar­ris­ten Jas­per de Zoet, der „Hen­drix aus den Nie­der­lan­den“ und die wohl bemer­kens­wer­teste Figur des Romans. Sie bewe­gen sich in einer Zeit, in der sich nicht nur die Pop­mu­sik neu erfand. Der Viet­nam­krieg und die Pro­teste dage­gen sor­gen auch für gesell­schaft­li­che Erup­tio­nen und Erschütterungen. 

Mit­chell ver­webt dabei Rea­les und Erfun­de­nes. So tref­fen die Prot­ago­nis­ten im Stu­dio, im Nacht­le­ben oder auf Kon­zer­ten immer wie­der auf reale Per­sön­lich­kei­ten der spä­ten sech­zi­ger Jahre. Maler Fran­cis Bacon bekommt genauso sei­nen Auf­tritt wie Janis Jop­lin, John Len­non, Brian Jones oder Leo­nard Cohen. History und Mys­tery wer­den hier bunt durch­ein­an­der gewir­belt. Das ist ganz char­mant und auch amü­sant zu lesen, aber nicht immer über­zeu­gend. Dafür ist die Geschichte dann doch zu kon­ven­tio­nell erzählt und vor­her­seh­bar. Auch wer­den die Iko­nen die­ser Zeit als sol­che beschrie­ben, sie blei­ben ver­klärt und auf Distanz. Sicher­lich hat der Autor auch für die­sen Roman auf­wen­dig recher­chiert, um ein mög­lichst rea­lis­ti­sches Zeit­ge­sche­hen abzu­bil­den, lei­der fehlt es dem Gan­zen dann aber doch an Leben­dig­keit und Tiefe. Aber immer dann, wenn der Autor Songs und Alben sei­ner erfun­de­nen Band beschreibt und künst­le­risch inter­pre­tiert, wer­den die Musik so leben­dig, dass man ver­sucht ist, die Tracks auf irgend­wel­chen Strea­ming-Platt­for­men zu suchen und abzuspielen. 

Mich hin­ge­gen fas­zi­nierte tat­säch­lich die außer­ge­wöhn­li­che Geschichte rund um den Gitar­ris­ten Jas­per De Zoet am meis­ten — und so erfuhr ich dann bei der Recher­che zu „Uto­pia Ave­nue“, dass die­ser nicht zufäl­lig den­sel­ben Nach­na­men wie der Titel­held aus Mit­chells Roman „Die Tau­send Herbste des Jacob De Zoet“ trägt — ein mit über­na­tür­li­chen Ele­men­ten ange­rei­cher­ter his­to­ri­scher Roman, der 2010 erschien- son­dern wohl sein direk­ter Nach­fol­ger ist. Ein wohl nicht unge­wöhn­li­ches selbst­re­fe­ren­ti­el­les Augen­zwin­kern des Autors. Wie auch immer: Gegen Ende des Romans nimmt die Geschichte noch ein­mal mit der Beschrei­bung von Jas­pers über­sinn­li­chem Schick­sal und dem Auf­ent­halt der Band in San Fran­cisco mit einer irren Party bei Jerry Gar­cia von Greatful Dead inklu­sive eines phan­tas­ti­schen Acid-Trips an Fahrt auf. 

Und kann man das Buch emp­feh­len? Es ist sicher­lich ein gewal­ti­ger Lie­bes­brief an die Musik der Six­ties und natür­lich will man wis­sen, wie’s aus­geht. Aber am Ende ist es wie bei einem James-Bond-Film: Es ist nicht wirk­lich span­nend oder über­ra­schend, aber man fühlt sich gut unter­hal­ten — und fragt sich den­noch, was man alles in die­ser Zeit hätte tun können.

PS: Warum heißt die Head­line „Stuff of Life“? Nun, Uto­pia Ave­nue hat zwei Alben ver­öf­fent­licht. Sie hei­ßen „Para­dise is the Road to Para­dise“ und „Stuff of Life“.

David Mitchell, Utopia Avenue

David Mit­chell
Uto­pia Ave­nue
Über­setzt von Vol­ker Olden­burg
745 Sei­ten
Verlag:Rowohlt

Andere Meinungen:

Ein Roman wie ein Gitar­ren­solo, ener­gie­ge­la­den, ver­spielt, betörend.

Focus, 16. Juli 2022

Die kon­ven­tio­nell erzählte Geschichte vom Auf­stieg einer Band
ver­wan­delt sich bei Mit­chell in ein Buch von kom­plett ande­rem Niveau.

The New Yorker